Können Sie uns, bevor Sie vom Leben und von den Zukunftsperspektiven Ihres Dorfes berichten, kurz sagen, als was Sie sich definieren? Bezeichnen Sie sich als aserbaidschanische Juden, als Taten oder als Bergjuden?

Ist es immer noch angenehm, in Krasnaya Sloboda zu leben?
Ja, absolut, trotz der Tatsache, dass wir eine jüdische Insel in einem muslimischen Ozean darstellen. Dies ist zunächst auf den wirtschaftlichen Erfolg unserer Stadt zurückzuführen, auch wenn es erstaunen mag, wenn man die umliegenden Dörfer betrachtet. Man braucht nur durch die Strassen zu spazieren, um festzustellen, dass sie in gutem Zustand sind, dass hier viele ausländische Automarken anzutreffen sind. Zudem besitzen wir zwei Sekundarschulen, ein Gymnasium, ein jüdisches Kulturzentrum, eine kleine Jeschiwah, die vom Rabbiner Adam David Davidov geleitet wird und wo wir unsere Führungskräfte von morgen ausbilden, sowie ein aktives jüdisches Leben. Auch wenn die Bevölkerung fast ausschließlich jüdisch ist, vergessen wir nie, dass wir in einem Land leben, das eine strenge Trennung von Kirche (in diesem Fall müsste es Moschee heißen) und Staat praktiziert. Wir begehen alle Nationalfeiertage mit derselben Begeisterung, Überzeugung und Freude wie unsere religiösen Feste. Obwohl wir ein jüdisches Dorf sind, gelten auch für uns die Gesetze des Landes, wir stellen keine Art theokratischer Enklave dar, die der jüdischen Gesetzgebung, der Halachah, untersteht, außer natürlich bei religiösen Fragen. Bei jenen, die sich an die Blütezeit unserer Gemeinschaft erinnern, als sie fast 18’000 Seelen zählte, kann das Schrumpfen unseres Dorfes auf 5’000 Einwohner natürlich schon eine gewisse Traurigkeit oder gar Besorgnis auslösen. Doch die Wirklichkeit sieht nicht so dramatisch aus, denn obwohl einige von uns nach Israel ausgewandert sind und zahlreiche junge Leute in Russland und vor allem in Moskau Arbeit suchen, haben wir hier eine zugleich ruhige und dynamische Aktivität aufrechterhalten. Alle kennen selbstverständlich alle, und die meisten Ehen werden innerhalb der Dorfbevölkerung geschlossen, auch wenn es zu einigen gemischten Heiraten kam, weil manche es nötig finden, Partner aus anderen Ortschaften und anderer Religionen zu ehelichen, was aber wirklich extrem selten ist. Noch vor kurzem überstieg die Zahl der Beerdigungen diejenige der Eheschließungen, doch dies ist heute nicht mehr der Fall. Die Zahlen sind fast ausgeglichen, in gewissen Jahren gibt es gar etwas mehr Heiraten.
Sie haben zwei Schulen erwähnt. Wie hoch ist der Anteil an jüdischen Fächern?
Es handelt sich um staatliche Schulen, die zu 98% von jüdischen Schülern besucht werden. Dennoch sind es keine jüdischen Schulen. Wir erteilen einige Lektionen in jüdischer Geschichte pro Woche, und vor den jeweiligen Feiertagen erklären wir ihre Bedeutung. Religiöse Fächer werden nicht gelehrt, doch es gibt Hebräischkurse. Grund dafür ist die Tatsache, dass jede ethnische Gruppe des Landes nach Abzug der Sowjets die Sprachen wählen durfte, die sie unterrichten wollte. Wir haben uns für Hebräisch entschieden. Alle religiösen Aspekte, einschließlich der Vorbereitung auf die Bar Mitzwah, finden nach dem obligatorischen Unterricht statt.
Wird auch Jüdisch-Tat unterrichtet?
Nein, aber es wird in den Familien gesprochen.
Glauben Sie, dass die Juden von Krasnaya Sloboda eine Zukunft haben?
Trotz der Bemühungen der Russen, uns vollständig in die «große russische Nation» einzugliedern, ist es uns Juden im Kaukasus schon immer gelungen, unsere jüdische Identität und unsere Traditionen zu bewahren, wie z.B. die Schechita (rituelle Schächtung der für den Verzehr vorgesehenen koscheren Tiere); wir haben unsere Söhne beschnitten und haben fast nur untereinander geheiratet. Die Tatsache, dass wir trotz des sowjetischen Jochs überlebt haben, gestattet uns einen optimistischen, gelassenen und realistischen Blick in die Zukunft.
Einige aus dieser Region ausgewanderte Juden glauben, dass es hier keine Zukunft gibt und dass in einigen Jahren der letzte Einwohner das sinkende Schiff endgültig verlassen wird. Wie denken Sie darüber?
Niemand kann die Zukunft vorhersagen, wie Sie wissen. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass wir in einem Staat leben, in dem die Juden im Allgemeinen große Wertschätzung und eine umfassende Glaubensfreiheit genießen. Was die anderen Bürger belastet, trifft auch die Juden. So ist hier, wie im ganzen übrigen Land, die Wirtschaftslage extrem schwierig und es herrscht ein dramatischer Mangel an Arbeitsplätzen. Unmittelbare und letztendlich recht gefährliche Folge davon ist, dass die jungen Leute vom leichten Geld in Moskau angezogen werden und auf ein langwieriges und schwieriges Studium verzichten. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Arzt sehr wenig verdient. Wir werden unserer Ansicht nach aber keine Schwierigkeiten deswegen haben, dass wir Juden sind oder unsere jüdische Existenz bedroht ist, ganz im Gegenteil. Wir laufen aber Gefahr, Mitglieder unserer Gemeinde zu verlieren, die sich zunächst in Baku niederlassen und später nach Moskau, in die USA oder nach Israel ziehen möchten. Doch falls sich die wirtschaftliche Situation positiv entwickeln sollte, wird uns dies natürlich bei der Aufrechterhaltung der Bevölkerungszahlen entgegenkommen. Viele Ausgewanderte sagen: «Ich komme nur für den Tag der Erinnerung an die Toten zurück (am Tag von Tischa BeAw) und kehre erst im Sarg wieder endgültig heim». Dies trifft gegenwärtig durchaus zu, denn zurzeit lässt sich hier niemand neu oder erneut nieder. Man muss aber auch wissen, dass die Menschen, die hier geboren sind, sehr an ihrer Heimat hängen und dies auch in der Fremde tun. Zahlreiche Juden, die in Moskau oder auch in China reich geworden sind, bauen gegenwärtig tolle Villen in Krasnaya Sloboda und spenden den jüdischen und nichtjüdischen Institutionen des Dorfes bedeutende Summen. So wurde beispielsweise eine unserer Schulen mit über 250 Schülern vollständig renoviert, ein anderer Mäzen hat ein rituelles Bad finanziert, ein weiterer einen Saal für Hochzeiten usw. Darüber hinaus kehren viele Bergjuden, die heute überall auf der Welt verstreut leben, hierher zurück, um zu heiraten oder die Hochzeit ihrer Kinder zu feiern.
Wie sieht es mit dem Antisemitismus und dem Islamismus aus?
In unserem eigentlichen Dorf gibt es diese Phänomene natürlich nicht. Aber auch in der umliegenden Region haben wir weder unter dem einen noch unter dem anderen zu leiden. Natürlich ist die Presse nicht immer sehr israelfreundlich, doch im Großen und Ganzen ist es wohl nicht schlimmer als in Europa. Der islamische Fundamentalismus wiederum hat in letzter Zeit kein Terrain gut gemacht, und selbst die islamische Partei in Aserbaidschan hat praktisch keine Anhänger… im Moment.
Abschließend können wir sagen, dass eine Reise nach Krasnaya Sloboda niemanden unberührt lässt. Wir waren erstaunt darüber, dass in den Strassen vor allem sehr betagte Männer und Frauen zu sehen sind. Als wir uns näher informierten, erfuhren wir, dass der Platz der Frauen gemäß der noch streng befolgten lokalen Tradition zu Hause ist. Sie gehen nur aus, wenn ihre Ehemänner es ihnen erlauben, besuchen nie ein Café, auch nicht mit Freundinnen. Wenn sie ins Restaurant gehen, dann immer mit der gesamten Familie. Mit 15 beginnen die Mädchen von der Schule abzugehen, um sich auf ihre Hochzeit vorzubereiten, die in sehr jungen Jahren stattfindet. Nur ganz wenige Mädchen absolvieren eine höhere Ausbildung. Und selbst diejenigen, die studiert haben, führen nach ihrer Eheschließung und der Rückkehr nach Krasnaya Sloboda ein Leben gemäß der Familientradition am heimischen Herd. Es stellt sich nun die Frage, wie lange diese Lebensform angesichts der Forderungen des modernen Daseins noch weitergeführt werden kann. Es steht aber fest, dass sich diese Einstellung bei den Bergjuden bis heute nicht geändert hat, die in jedem Fall einen Besuch wert sind, weil es sich um herzliche, sympathische und intelligente Menschen handelt, die stolz sind auf ihre Identität und ihr historisches und religiöses Erbe. Es sind ganz einfach unsere Brüder… Brüder, von denen man gern noch mehr hätte!
Quelle: http://www.shalom-magazine.com/